M ö r i k e - Materialien II
- für wenn das Häuschen, die Wohnung, die Stube - die Bude, das Türmchen zu klein, zu knapp, zu beschränkend sind; oder der Lebenssinn einfältig zu werden droht -
Anton Stephan Reyntjes
I. Des nachher, morgens, anderweitig
Was doch ein Lippenrausch
gewesen
und hat erst des Morgens
sich gelegt!
Bis Lilienworte starben
und
rote Zungenpilger sich im
Traum bewegt.
Da, im ersten Lichte,
huschen Klettenblicke,
die halb verschüchert um
sich sehn;
ein Rosenherz den
Feueratem findet,
die alten Körperworte
jung erglühn.
Enthetzt der Kerl, er will
nicht mehr!
Das Mädchen will sich ihm
wieder nahn:
So sehn sich herzlich und
verlegen
Die ungewohnten Schläfer
an.
Er scheint zu fragen, ob
das Püppchen
die Biomasse schon zurecht
gemacht,
die heut Nacht in ihrem
Stübchen
die Knutscherei verschoben bracht.
Sie nennt ihn Flackerherz,
nein, Tatterkopp,
du Teufelsbrot,
ach, du Schlackerkerz!
Ach - nee??
II. Achja, du meine –
Du, jau, meine liebe Not!
Du!
Wie du um die Ecke
schaust –
Du kriegst es ja,
Wa? Wie? Was?
Mein Korinthenbrot -
**
Eduard Mörike:
Begegnung
Was doch
heut' Nacht ein Sturm gewesen,
Bis erst
der Morgen sich geregt!
Wie hat
der ungebetne Besen
Kamin
und Gassen ausgefegt!
Da kommt
ein Mädchen schon die Straßen,
Das halb
verschüchert um sich sieht;
Wie
Rosen, die der Wind zerblasen,
So
unstet ihr Gesichtchen glüht.
Ein
schöner Bursch tritt ihr entgegen,
Er will
ihr voll Entzücken nahn:
Wie sehn
sich freudig und verlegen
Die
ungewohnten Schelme an.
Er
scheint zu fragen, ob das Liebchen
Die
Zöpfe schon zurecht gemacht,
Die
heute Nacht im offnen Stübchen
Ein
Sturm in Unordnung gebracht.
Der
Bursche träumt noch von den Küssen,
Die ihm
das süße Kind getauscht,
Er
steht, von Anmut hingerissen,
Derweil
sie um die Ecke rauscht.
*
1828 schreibt
Mörike dieses Erzählgedicht, das zunächst als reine, wenn auch mit
lebhafter Anteilnahme gestaltete Vorgangsbeschreibung anmutet; es existiert dazu eine Vorlage aus "Des Knaben Wunderhorn" (1805/1808)
Mörikes
Vorlage:
Das Wiedersehen am
Brunnen
(„Mündlich
überliefert“ geben die Herausgeber in „Des Knaben Wunderhorn“
an.)
Es war einmal ein
junger Knab,
Der hat gefreit
schon sieben Jahr
Um ein fein
Mädlein, das ist wahr,
Er konnt sie nicht
erfreien.
"Ei, komm den
Abend, junger Knab,
Wenn finstre Nacht
und Regen ist,
Wenn niemand auf
der Gasse ist,
Herein will dich
lassen."
Der Tag verging,
der Abend kam,
Der junge Knab
geschlichen kam,
Er klopfet leise an
die Tür:
"Steh auf, ich
bin dafür.
Ich hab schon lang
gestanden hier,
Ich stand allhier
wohl sieben Jahr."
"Hast lang
gestanden. Das ist nicht wahr,
Ich hab noch nicht
geschlafen.
Ich hab gelegn und
hab gedacht,
Wo nur mein Schatz
noch bleiben mag,
Er macht mir
allzulang, zu lang,
Mir wird ganz angst
und bange."
"Wo ich solang
geblieben bin,
Das darf dir wohl
gesaget sein,
Bei Bier und Wein ,
wo Jungfern sein,
Da bin ich allzeit
gerne."
Es war wohl um die
Mitternacht,
Der Wächter fing
zu läuten an:
"Steh auf, wer
bei Feinsliebchen liegt,
Der Tag kommt
angeschlichen."
Das Bürschlein auf
die Leiter sprang
Und schaut die
Stern am Himmel dicht.
Ich scheide nicht,
bis Tag anbricht,
Bis alle Sterne
schwanden."
Es sah das
Morgensternlein nur,
Als sich der Knab
von ihr gewandt;
Das Mägdlein
morgens früh aufstand,
Ging an den kühlen
Brunnen.
Begegnet ihr
derselbig Knab,
Der nachts bei ihr
geschlafen hat,
Viel guten Morgen
boten hat:
"Gut Morgen,
mein Feinsliebchen.
Wie hast geschlafen
heute nacht?"
"Ich hab
gelegn in Liebchens Arm!
Ich hab geschlafen,
daß Gott erbarm,
Mein Ehr hab ich
verschlafen!"
Quelle:
Achim von Arnim und Clemens Brentano: Des Knaben Wunderhorn. Band 1, Stuttgart u.a.
1979, S. 308-310.
Permalink:http://www.zeno.org/nid/20004465660
*
Zur Interpretation verweise ich auf Renate von Heydebrands Erarbeitung:
Die Anwesenheit des
Erzählers ist noch unauffälliger, zumal auch hier wieder in der
Zeitform der Gegenwart erzählt wird. Mörike führt aber gleich in
der ersten Strophe einen Beobachter ein, der alles Künftige
wahrnimmt: jemand räsonniert erstaunt (wie die Ausrufezeichen und
-sätze anzeigen) über das nächtliche Unwetter und seine Wirkungen.
Erst später läßt sich darin auch der Kunstgriff des Dichters
erkennen, der hier zugleich die Grundmetapher für das nächtliche
Geschehen, das sich in der »Begegnung« nur spiegelt, einsetzt,
den »Sturm«. Vom Ende her erscheint damit der Erzähler schon in
der ersten Strophe als durchtriebener Schalk, der eine pikante
Geschichte anspielungsreich und doch scheinbar naiv zu
präsentieren weiß. Den Auftritt des Mädchens zeichnet er in der
Rolle des Beobachters zunächst ganz sachlich auf; dann versucht er,
den Ausdruck der schüchternen Verwirrung in ihrem Gesicht durch
einen Vergleich näher zu bestimmen, wobei als Ursache schon der
»Wind« ins Spiel kommt. Auch das Erscheinen des Burschen und seine
anscheinend plötzlich gehemmte Bewegung (»Er will ihr voll
Entzücken nahn«, kann oder darf es aber wohl nicht) wird genau
registriert. Darauf folgt ein erster Versuch der Deutung, den der
Erzähler schon durch den Modus der Aussage als subjektive Meinung
kennzeichnet: »Wie sehn sich freudig und verlegen« - vielleicht er
mehr freudig, sie mehr verlegen? - »die ungewohnten Schelme an«.
die Befangenheit, die wohl auf seiten des Mädchens etwas größer
ist, Überträgt sich auch auf den Burschen, verhindert die
vertrauliche Annäherung und läßt den Beobachter die ersten
Schlüsse ziehen. Die spinnt er denn in der nächsten Strophe weiter
aus, ganz Erzählende Darstellung diskret; er formuliert seine
Vermutung als vermutliche Frage des jungen Mannes und
verbirgt den Vorgang der nächtlichen Liebesbegegnung unter der
Sturm-Metapher. Er fühlt sich ganz in den jungen Mann ein und kann
dadurch in der letzten Strophe dessen innere Empfindungen
nachzeichnen: weniger gehemmt als das Mädchen, erinnert der sich
jetzt unverhüllt an die Liebesnacht und zeigt sich von neuem
fasziniert, wenn seine Schöne, ihre Verlegenheit in großer
Geste überspielend, »um die Ecke rauscht«. In den beiden letzten
Zeilen scheint der Erzähler aber bereits wieder Distanz zu nehmen
und sich fast über die Verliebten lustig zu machen, indem er mit
seinen Wendungen ein wenig zu hoch greift, ein anderes Milieu
unterstellt als das, dem die beiden dem volkstümlichen Ton
des Ganzen entsprechend - angehören.
In diesem Gedicht
also verrät sich der Erzähler, obgleich nicht mit dargestellt, als
anwesender Zeuge des Geschehens durch entschiedene Anteilnahme, durch
interpretierende und kommentierende Wendungen, ja, am Anfang und
gegen Ende durch sein augenzwinkerndes Bescheidwissen. Das schafft
eine „realistische“ Atmosphäre - fast möchte man schon an
Spitzweg-Szenen denken -, die den Merkmalen, die auf eine
volksliednahe, literarische Situation hinweisen, entgegenwirkt. Für
den Volkston sprächen die Typisierung von »Mädchen« und »Bursch«,
die Diminutiva von »Liebchen« und »Stübchen«, ja die
charakteristische Wendung vom »offnen Stübchen« als Metapher
für Liebesbereitschaft, die Kargheit der Umweltbeschreibung (Kamin,
Gassen, Straßen). Literarisch in anderer Weise wirken das Gleichnis
von den »Rosen, die der Wind zerblasen«, das »süße Kind« und
die hinreißende »Anmuth«, und manches andere in Wortschatz und
-fügung. Keine dieser drei Stilschichten kann sich ganz durchsetzen,
und daher ist die Realitätssuggestion des Gedichts trotz der
vorgeblichen Zeugenschaft des Erzähler-Beobachters nicht allzu
stark. Der Leser empfindet das Gedicht darum eher als ein
Modell, an dem der Dichter Mörike zwei seiner Lieblingsmotive
darstellen kann: andeutend das Motiv »Lieb ist wie Wind« und
ausführlich das Motiv »gemischte Gefühlslagen«. Wie das Gedicht
Tag und Nacht lassen sich diese Verse daher auf dem Wege des
Motivvergleichs innerhalb des Gesamtwerkes auf den Autor und sein
Gefühlsleben beziehen, ohne daß von einem »Erlebnisgedicht«
gesprochen werden sollte.
(R. v. H.: Eduard Mörikes Gedichtwerk. Stuttgart 1972: Metzler. S.
93f.; (ohne Anmerkungen wiedergegeben)
"Begegnung" (neben dem "Peregrina"-Zyklus, "Romanze vom wahnsinnigen Feuerreiter", "Er ist's", "Erstes Liebeslied eines Mädchens") gehört zu Eduard Mörike großen, im Umfang von etwa zehn Gedichten, die er in seinem erfolgreichsten, poetischen Jahrzehnt von 1804 - 1824 geschrieben hat: von Erfahrung gesättigt, von ästhetischem Selbstbewusstsein reich geprägt, von formaler Prägnanz und intentional ungebrochenem Glanz -
"Begegnung" (neben dem "Peregrina"-Zyklus, "Romanze vom wahnsinnigen Feuerreiter", "Er ist's", "Erstes Liebeslied eines Mädchens") gehört zu Eduard Mörike großen, im Umfang von etwa zehn Gedichten, die er in seinem erfolgreichsten, poetischen Jahrzehnt von 1804 - 1824 geschrieben hat: von Erfahrung gesättigt, von ästhetischem Selbstbewusstsein reich geprägt, von formaler Prägnanz und intentional ungebrochenem Glanz -
In geheimnisvoll-offenbarer Weise kennzeichnte Eduard Mörike sein grundlegendes ästhetisches Dilemma im prägnanten Zusammenhang so:
Keine Rettung
Kunst! o in deine Arme wie gern
entflöh' ich dem Eros!
Doch du Himmlische hegst selbst den
Verräther im Schooß!“
(Vor 30.08.1845; Erstdruck 17.2.1846;
nicht die Gedichtsammlungen aufgenommen. HKA. Bd. 15, S. 412; vgl.Heydebrand 1972.
S. 177))
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