Samstag, 31. Oktober 2015



                                               - Mörikes Turmhahn (vergrünt) -

 

 - 'Feuerreiter' und mehr -






M ö r i k e - Materialien I

 - Erzählung aus düsteren, deutschen Tagen, in denen edel gesonnene Pädagogik sich aufmachte, Lichtlein zu setzen - 




 Anton Stephan Reyntjes




Von deutschem Geist, dem schwäbischen

    
                     - in memoriam Kurt Abels -




Ja, er hatte sich Respekt verschafft. In der allerersten Stunde. Natürlich. Da entscheidet sich das Schicksal eines Lehrers. Amen! Damut – pardon: Damit du es weißt! Dann aber war er der gute Freund. Mal eben so: väterlich und so! Zuerst hatte er fast in jeder Stunde von seinen Motorradfahrten durch Süddeutschland erzählt. Vom Schloß Mersburg aus - "Jungs, wisst ihr, die Annette von Droste!" Er wartete ab: "Ja, die Hülshoff!" Wieder Pause! "Ja, weiß es jemand? - Nein? Die ist dort beerdigt. - na, fahren wir weiter. Ich war schon im ersten Chor der Fahrlehrer!"

Janno flüsternd: "Klar, NSKK. Je höher der Stand der motorisierung, desto stärker die Abwehrkraft der Nation!" - Ich, zurück: "Woher weiß'n denn das?"

"Ruhe da!. Aber fix! Burschen. - na, also! - Und dann mit sparsamem Gas quer durch den schönen Allgäu."

"Da hätte der Führer auch eine Autobahn hinbauen müssen. Gradaus bis- bis Stalingrad oder so!" "Meinste? Eine! Und was für eine! Nur für Motorräder!" Er vermied immer, Krad zu sagen, der olle Janno!

"Was? Noch keine Ruhe? - Ah, Jan, du, gut dass du dich meldest. - Ah, willst austreten. Weiss schon, deine Blase, deine lockere Blase."

Alles musste lachen. Undsoweiter. Wenn Jan sich draußen auspinkelte, oder auslachte, war neben mir Ruhe.

So hatten wir unsere Abwechslung vom öden Dienst als Luftwaffenhelfer. Dienst war Dienst. Und Schule - Schule war Privatidee des Herrn



*



"Als treuer Schwabe kenne ich meine Heimat, da bin ich viel unterwegs gewesen, in den allen deutschen Gauen. Von Konstanz zum Olympiastadion nach Garmisch!"

"Blödmann. Gab es gar nicht, die Winterspiele, damals da!"

"Von Neuschwannstein" (Er sagte immer: Schwann.)"Von Berg am See bis hoch hinaus. Zum Blauen Topf zum Beispiel. Oder bis tief unten nach Passau hinab, du Donau, unsere Lebensstraße. Und in die weite Ostmark hinein, wo sich die Donau verabschiedet an unseren Grenzen. Und auch der Ungar ist schon befreit. Und liefert das Gulasch fürs winterhiflswerk. So erzähle ich auch gern später noch mehr."

Aber jetzt, im Dreck und in der Kälte?



Da steht er morgens vor uns und reibt sich am Bullerofen die Hände. Nix mit DKW 25o ccm mit Spezialsitzen! Und zwei Motorradkappen, die später in Stalingrad fehlten. Nix Reparatur der Kupplung am Straßenrand! Nix vom Rennen auf dem Hockenheimring. Nix von der Rallye, äh, der Friedensfahrt durch Deutschland.

"Hat ja gut geklappt heute morgen, mit unserem Kanonenofen (Er kichert dabei). Ja, ich hab's gerne warm, für mich und für euch, Jungs. Und wenn's so dunkel und unfreundlich ist wie heute, da nehme ich gerne euch auf einer Gedankenreise mit in das schöne deutsche Sprachgut."

Und Dr. Schätzle war gut drauf. Er trug vor: Räuspert sich erst: Von Eduard Mörike: Das verlassene Fräulein oder so ähnlich.

"Nun, Jungs, was meinen Sie darüber?

Er wartet. Soller warten, bis es ihm ungemütlich wird. Hab nix verstanden!

Her Doktor, können Sie den Schma - äh, das Gedicht noch einmal vortragen?“

Ja, er kann es auswendig!

Zuhören! Jungs! Abschalten, Kameraden!

Trauen Sie sich ruhig! Immer frisch vom Fleck! Es ist mal etwas anderes als das Übliche im Deutschunterricht, mit Grammatik und Schönschreiben. Wie?“

Nein, noch keiner!

Ich trage es nochmals vor. Beachten Sie die sprachliche Schönheit! Versuchen Sie, sie nachzuempfinden! Haben Sie Mut, die Schönheit dieses Kunstwerks zu erkennen!

Und wieder achtzehn Strophen oder so!

Ja, Sie, Kurti!“

"Mägdlein? Ist das normal. Es soll doch eine junge Frau sein? Oder? Keine Magd!"

Sie müssen sich doch versetzen in die Lage eines Hausmädchens, das verführt wurde.

Kichern, irgendwo zwischen Hein und Wilhelm!

- Wer hat da? - Ich erwarte Konzentration und Fleiß für die Schweiß-, äh, die Perlen der deutschen Lyrik! -

Ja, Sie?

Und der "Flamme Schein"? Was meinen Sie denn? Hier stinkt es vom Bullerofen, und ich hab mir vorhin die Uniform versaut, als ich den mit dem nassen Zeugs anstecken mußte.

Wohin paßt das Gedicht denn wohl?

Ich hab aufpassen müssen, um Sie überhaupt zu verstehen, Herr Dr.!

Ja, Sie schwäbeln so fein, Herr Dr. Schätzle!

Und die Schönheit und die Klangfülle. Und der Reim? Was sagt euch das, ihr jungen Herrn! - Euch fehlt noch die Bildung, die ihr nicht hinter dem 22er Geschütz lernt. Das müsste einer mal unserm Führer sagen!



Gar nix?

Wie jung mochte er sein?

Wie alt mochte er noch werden?


Soll ich denen vorsprechen?"Seht ihr am Fensterlein dort die rote Müss- äh: Mütze -?


Ich wiederhole die letzte Strophe: 

"Träne auf Träne dann
Stürzet hernieder; 
So kommt der Tag heran -
O ging er wieder!"

Oh, wenn ihr wollt: entstanden 1829. Very alt! - 
Da hat sich jemand ausgeschleimt, kotzig: "Armes Weibchen!" -
Wollte er es besser als im Volkslied machen?



Ich glaub, der Ludwig, einer von den dreien, die beim Luftangriff im Hydrierwerk draufgegangen sind, der wär von der gedichtmäßigen Schönheit begeistert gewesen.

(An ihn denken. Lächeln, traurig, mit Nachzündung. Glimmend.)

Der hat mir mal ein Gedicht an seine Marie vorgelesen. Aber nix mit entzündeten Äugelein und so!

Das stand da ja auch nicht bei Mörike.

Aber die Sternlein verschwinden. Heute noch - morgens ... Versteh ich.



Aber, wir tun alles für Sie! Wir geben uns Mühe um Ihre Bildung! Auch unter schweren Umständen, die uns die Angloamerikaner -

Und die leichte Flak, 22, Da stehen Sie ungeschützt gegen gegnerische Bomben, im Höllenfeuer. - Aufgepasst!

Eduard Mörike - das - das ist mein Herzblut! Jungs! Vergeßt mich nimmer!

Haben Sie da schon mal gestanden? Und über die leichte Flak lachen Tommys!“ „Die können uns auch nicht schützen!“ „Die Ballerei ist nur, damit wir was zu tun haben!“ „Das hast du aber mal gut gesagt, Sebastianchen!“

Die holen unsere Mühlen doch runter wie nix! Spitfire und Mustangs gegen die lahme, alte Ju 87! Die Me 109. Weg war sie, weggeputzt vom Himmel über der Ruhr. Und die Moskitos erst! Das ist wenigstens ein Flugzeug, die macht 650 Sachen!

"Und unsere 2 cm Flak, das ist doch was fürn Arsch! Da gehen wir doch baden!"

"Undankbar und- und - ehrlos, jawoll! Ehrlos und undankbar seid Ihr alle! Ich müßte euch melden!"


Geht vor dem Pult. Hin und her! Ach - im wehrmachtssmantel. Der Klassenraum war nicht geheizt.


Ich breche den Unterricht ab. Alle mitschrieben! Jawoll! - Ihnen fehlt ein Bleistift? - Schluß mit Lyrik! Ich diktiere drei Sätze! Die sind zu bestimmen nach Wortarten und Satzgliedern. Lassen Sie unter jeder Zeile zwei Reihen frei. Ich beginne. Wer raschelt da so lange?

Also, Obacht:

Aus dem Wehrmachtsbericht vom 5.1.45: In schweren Luftabwehrkämpfen bemühen sich unsere Flaksoldaten, um die Heimat vor den anglo-amerikanischen Terrorbombern zu schützen....



*



Handelnde: Dr. Eduard Schätzle, Deutschlehrer, und zwölf Luftwaffenhelfer (Benannte Figuren in Kurt Abels Erinnerungsbuch „Ein Held war ich nicht“.)




Ort: Schulbaracke der Luftwaffenhelfer am Flugplatz in der Kirchhellener Heide bei Gladbeck 
 

Zeit: 8. Januar 1945



(Als Vorlage meines Textes diente der Bericht von Kurt Abels über eine Unterrichtsstunde eines Deutschlehrers vor Flakhelfern im Januar 1945. Vgl. Kurt Abels: Ein Held war ich nicht. Köln u.a. 1998: Böhlau Verlag. S. 95; hier die Originalpassage:
 
Eines Morgens eröffnete er [Dr.Schätzle, ein Mittelstufenlehrer] (...) den Unterricht [für die Flakhelfer], indem er das Gedicht „Das verlassene Mägdlein" von Eduard Mörike vorlas; vielleicht bewog ihn der dunkle, unfreundliche Morgen dazu. Dann forderte er uns au£ die Qualitäten des Gedichtes nachzuempfinden oder zu erkennen. Dazu war anscheinend kaum einer, ich jedenfalls nicht, in der Lage. Vielmehr bemüh­ten wir uns mit unseren schülerhaften, unbeholfenen Worten auszudrücken, daß uns ein Mädchen, das Feuer anmacht und dabei darüber klagt, daß es von seinem Freund verlassen wor­den sei, völlig egal sei, es gehe uns nichts an. Der Lehrer hatte wohl geglaubt, daß der trübe, nebligkalte Morgen, der triste Schulweg, der Aufenthalt in der von einem Ofen geheizten, aber sonst wenig anheimelnden Schulbaracke mit ihren häßlichen Holztischen und den Standard-Flakschemeln einen günstigen Einstieg in die .Behandlung' oder .Durchnahme' des Gedichtes bieten würden. Die Auseinandersetzung wurde heftiger. „Mägdlein" und „Knabe" erschienen uns als abwegige Wörter; in der rein männlichen Umgebung war ein ganz anderes Voka­bular geläufig. „Der Flamme Schein" und „das Verschwinden der Sternlein" ließen das Gedicht als anachronistisch und des­halb unpassend erscheinen. Schließlich brach Dr. Schätzle die Stunde ab. Aus der Rückschau betrachtet haben wir, wenn nicht dem Lehrer, so doch Eduard Mörike und seinem Gedicht un­recht getan. Das Gedicht wirkt trotz oder vielleicht wegen der Schulstunde an diesem Morgen im Januar 1945 nach. Ich lernte seine literarische Qualität erkennen und habe es nie mehr aus dem Gedächtnis verloren. 
Wie im Gedicht das Feueranzünden die traurigen Assozia­tionen des verlassenen Mädchens hervorruft, so verursachte die Notwendigkeit, in der Schulbaracke den Ofen zu heizen, einen zweiten Zusammenstoß zwischen Dr. Schätzle und Schülern, diesmal unmittelbar zwischen ihm und mir. Jeden Morgen wa­ren im Wechsel zwei der Schüler verpflichtet, eine Viertelstunde vor Beginn des Unterrichts den Ofen in der Baracke anzuheizen (...)



Nachruf für Professor Dr. Kurt Abels der Pädagogischen Hochschule Freiburg:

Ad gloriam Eduard M ö r i k e:

Eduard Mörike - 1823,  19jährig -