Sonntag, 1. November 2015



M ö r i k e - Materialien II


-  für wenn das Häuschen, die Wohnung, die Stube  - die Bude, das Türmchen zu klein, zu knapp, zu beschränkend sind; oder der Lebenssinn einfältig zu werden droht  -


Anton Stephan Reyntjes



I. Des nachher, morgens, anderweitig




Was doch ein Lippenrausch gewesen

und hat erst des Morgens sich gelegt!

Bis Lilienworte starben und

rote Zungenpilger sich im Traum bewegt.



Da, im ersten Lichte, huschen Klettenblicke,

die halb verschüchert um sich sehn;

ein Rosenherz den Feueratem findet,

die alten Körperworte jung erglühn.



Enthetzt der Kerl, er will nicht mehr!

Das Mädchen will sich ihm wieder nahn:

So sehn sich herzlich und verlegen

Die ungewohnten Schläfer an.



Er scheint zu fragen, ob das Püppchen

die Biomasse schon zurecht gemacht,

die heut Nacht in ihrem Stübchen

die Knutscherei verschoben bracht.



Sie nennt ihn Flackerherz,

nein, Tatterkopp,

du Teufelsbrot,

ach, du Schlackerkerz!

Ach - nee?? 

II. Achja, du meine –

Du, jau, meine liebe Not!

Du! 

Wie du um die Ecke schaust –

Du kriegst es ja,

Wa? Wie? Was?

Mein Korinthenbrot -




**

Eduard Mörike: 

Begegnung


Was doch heut' Nacht ein Sturm gewesen,

Bis erst der Morgen sich geregt!

Wie hat der ungebetne Besen

Kamin und Gassen ausgefegt!



Da kommt ein Mädchen schon die Straßen,

Das halb verschüchert um sich sieht;

Wie Rosen, die der Wind zerblasen,

So unstet ihr Gesichtchen glüht.



Ein schöner Bursch tritt ihr entgegen,

Er will ihr voll Entzücken nahn:

Wie sehn sich freudig und verlegen

Die ungewohnten Schelme an.



Er scheint zu fragen, ob das Liebchen

Die Zöpfe schon zurecht gemacht,

Die heute Nacht im offnen Stübchen

Ein Sturm in Unordnung gebracht.



Der Bursche träumt noch von den Küssen,

Die ihm das süße Kind getauscht,

Er steht, von Anmut hingerissen,

Derweil sie um die Ecke rauscht.

*
1828 schreibt Mörike dieses Erzählgedicht, das zunächst als reine, wenn auch mit lebhafter Anteilnahme gestaltete Vorgangsbeschreibung anmutet; es existiert dazu eine Vorlage aus "Des Knaben Wunderhorn" (1805/1808)


Mörikes Vorlage:

Das Wiedersehen am Brunnen

(„Mündlich überliefert“ geben die Herausgeber in „Des Knaben Wunderhorn“ an.)



Es war einmal ein junger Knab,

Der hat gefreit schon sieben Jahr

Um ein fein Mädlein, das ist wahr,

Er konnt sie nicht erfreien.



"Ei, komm den Abend, junger Knab,

Wenn finstre Nacht und Regen ist,

Wenn niemand auf der Gasse ist,

Herein will dich lassen."



Der Tag verging, der Abend kam,

Der junge Knab geschlichen kam,

Er klopfet leise an die Tür:

"Steh auf, ich bin dafür.



Ich hab schon lang gestanden hier,

Ich stand allhier wohl sieben Jahr."

"Hast lang gestanden. Das ist nicht wahr,

Ich hab noch nicht geschlafen.



Ich hab gelegn und hab gedacht,

Wo nur mein Schatz noch bleiben mag,

Er macht mir allzulang, zu lang,

Mir wird ganz angst und bange."



"Wo ich solang geblieben bin,

Das darf dir wohl gesaget sein,

Bei Bier und Wein , wo Jungfern sein,

Da bin ich allzeit gerne."



Es war wohl um die Mitternacht,

Der Wächter fing zu läuten an:

"Steh auf, wer bei Feinsliebchen liegt,

Der Tag kommt angeschlichen."



Das Bürschlein auf die Leiter sprang

Und schaut die Stern am Himmel dicht.

Ich scheide nicht, bis Tag anbricht,

Bis alle Sterne schwanden."



Es sah das Morgensternlein nur,

Als sich der Knab von ihr gewandt;

Das Mägdlein morgens früh aufstand,

Ging an den kühlen Brunnen.



Begegnet ihr derselbig Knab,

Der nachts bei ihr geschlafen hat,

Viel guten Morgen boten hat:

"Gut Morgen, mein Feinsliebchen.



Wie hast geschlafen heute nacht?"

"Ich hab gelegn in Liebchens Arm!

Ich hab geschlafen, daß Gott erbarm,

Mein Ehr hab ich verschlafen!"
  
Quelle:
Achim von Arnim und Clemens Brentano: Des Knaben Wunderhorn. Band 1, Stuttgart u.a. 1979, S. 308-310. 
*

Zur Interpretation verweise ich auf Renate von Heydebrands Erarbeitung:  

Die Anwesenheit des Erzählers ist noch unauffälliger, zumal auch hier wieder in der Zeitform der Gegenwart erzählt wird. Mörike führt aber gleich in der ersten Strophe einen Beobachter ein, der alles Künftige wahrnimmt: jemand räsonniert erstaunt (wie die Ausrufezeichen und -sätze anzeigen) über das nächtliche Unwetter und seine Wirkungen. Erst später läßt sich darin auch der Kunstgriff des Dichters erkennen, der hier zugleich die Grundmetapher für das nächtliche Ge­schehen, das sich in der »Begegnung« nur spiegelt, einsetzt, den »Sturm«. Vom Ende her erscheint damit der Erzähler schon in der ersten Strophe als durch­triebener Schalk, der eine pikante Geschichte anspielungsreich und doch schein­bar naiv zu präsentieren weiß. Den Auftritt des Mädchens zeichnet er in der Rolle des Beobachters zunächst ganz sachlich auf; dann versucht er, den Ausdruck der schüchternen Verwirrung in ihrem Gesicht durch einen Vergleich näher zu bestimmen, wobei als Ursache schon der »Wind« ins Spiel kommt. Auch das Erscheinen des Burschen und seine anscheinend plötzlich gehemmte Bewegung (»Er will ihr voll Entzücken nahn«, kann oder darf es aber wohl nicht) wird genau registriert. Darauf folgt ein erster Versuch der Deutung, den der Erzähler schon durch den Modus der Aussage als subjektive Meinung kennzeichnet: »Wie sehn sich freudig und verlegen« - vielleicht er mehr freudig, sie mehr verlegen? - »die ungewohnten Schelme an«. die Befangenheit, die wohl auf seiten des Mädchens etwas größer ist, Überträgt sich auch auf den Burschen, verhindert die vertrauliche Annäherung und läßt den Beobachter die ersten Schlüsse ziehen. Die spinnt er denn in der nächsten Strophe weiter aus, ganz Erzählende Darstellung diskret; er formuliert seine Vermutung als vermutliche Frage des jungen Man­nes und verbirgt den Vorgang der nächtlichen Liebesbegegnung unter der Sturm-Metapher. Er fühlt sich ganz in den jungen Mann ein und kann da­durch in der letzten Strophe dessen innere Empfindungen nachzeichnen: weniger gehemmt als das Mädchen, erinnert der sich jetzt unverhüllt an die Liebesnacht und zeigt sich von neuem fasziniert, wenn seine Schöne, ihre Ver­legenheit in großer Geste überspielend, »um die Ecke rauscht«. In den beiden letzten Zeilen scheint der Erzähler aber bereits wieder Distanz zu nehmen und sich fast über die Verliebten lustig zu machen, indem er mit seinen Wendungen ein wenig zu hoch greift, ein anderes Milieu unterstellt als das, dem die beiden   dem volkstümlichen Ton des Ganzen entsprechend - angehören.

In diesem Gedicht also verrät sich der Erzähler, obgleich nicht mit dargestellt, als anwesender Zeuge des Geschehens durch entschiedene Anteilnahme, durch interpretierende und kommentierende Wendungen, ja, am Anfang und gegen Ende durch sein augenzwinkerndes Bescheidwissen. Das schafft eine „realistische“ Atmosphäre - fast möchte man schon an Spitzweg-Szenen denken -, die den Merkmalen, die auf eine volksliednahe, literarische Situation hinweisen, entgegenwirkt. Für den Volkston sprächen die Typisierung von »Mädchen« und »Bursch«, die Diminutiva von »Liebchen« und »Stübchen«, ja die charakteristi­sche Wendung vom »offnen Stübchen« als Metapher für Liebesbereitschaft, die Kargheit der Umweltbeschreibung (Kamin, Gassen, Straßen). Literarisch in anderer Weise wirken das Gleichnis von den »Rosen, die der Wind zerblasen«, das »süße Kind« und die hinreißende »Anmuth«, und manches andere in Wortschatz und -fügung. Keine dieser drei Stilschichten kann sich ganz durchsetzen, und daher ist die Realitätssuggestion des Gedichts trotz der vorgeblichen Zeugen­schaft des Erzähler-Beobachters nicht allzu stark. Der Leser empfindet das Ge­dicht darum eher als ein Modell, an dem der Dichter Mörike zwei seiner Lieb­lingsmotive darstellen kann: andeutend das Motiv »Lieb ist wie Wind« und ausführlich das Motiv »gemischte Gefühlslagen«. Wie das Gedicht Tag und Nacht lassen sich diese Verse daher auf dem Wege des Motivvergleichs innerhalb des Gesamtwerkes auf den Autor und sein Gefühlsleben beziehen, ohne daß von einem »Erlebnisgedicht« gesprochen werden sollte.


(R. v. H.: Eduard Mörikes Gedichtwerk. Stuttgart 1972: Metzler. S. 93f.; (ohne Anmerkungen wiedergegeben)

"Begegnung" (neben dem "Peregrina"-Zyklus, "Romanze vom wahnsinnigen Feuerreiter", "Er ist's", "Erstes Liebeslied eines Mädchens") gehört zu Eduard Mörike großen, im Umfang von etwa zehn Gedichten, die er in seinem erfolgreichsten, poetischen Jahrzehnt von 1804 - 1824 geschrieben hat: von Erfahrung gesättigt, von ästhetischem Selbstbewusstsein reich geprägt, von formaler  Prägnanz und intentional ungebrochenem Glanz - 
 
In geheimnisvoll-offenbarer Weise kennzeichnte Eduard Mörike sein grundlegendes ästhetisches Dilemma im prägnanten Zusammenhang so:
Keine Rettung
Kunst! o in deine Arme wie gern entflöh' ich dem Eros!
Doch du Himmlische hegst selbst den Verräther im Schooß!“
(Vor 30.08.1845; Erstdruck 17.2.1846; nicht die Gedichtsammlungen aufgenommen. HKA. Bd. 15, S. 412; vgl.Heydebrand 1972. S. 177))





Samstag, 31. Oktober 2015



                                               - Mörikes Turmhahn (vergrünt) -

 

 - 'Feuerreiter' und mehr -






M ö r i k e - Materialien I

 - Erzählung aus düsteren, deutschen Tagen, in denen edel gesonnene Pädagogik sich aufmachte, Lichtlein zu setzen - 




 Anton Stephan Reyntjes




Von deutschem Geist, dem schwäbischen

    
                     - in memoriam Kurt Abels -




Ja, er hatte sich Respekt verschafft. In der allerersten Stunde. Natürlich. Da entscheidet sich das Schicksal eines Lehrers. Amen! Damut – pardon: Damit du es weißt! Dann aber war er der gute Freund. Mal eben so: väterlich und so! Zuerst hatte er fast in jeder Stunde von seinen Motorradfahrten durch Süddeutschland erzählt. Vom Schloß Mersburg aus - "Jungs, wisst ihr, die Annette von Droste!" Er wartete ab: "Ja, die Hülshoff!" Wieder Pause! "Ja, weiß es jemand? - Nein? Die ist dort beerdigt. - na, fahren wir weiter. Ich war schon im ersten Chor der Fahrlehrer!"

Janno flüsternd: "Klar, NSKK. Je höher der Stand der motorisierung, desto stärker die Abwehrkraft der Nation!" - Ich, zurück: "Woher weiß'n denn das?"

"Ruhe da!. Aber fix! Burschen. - na, also! - Und dann mit sparsamem Gas quer durch den schönen Allgäu."

"Da hätte der Führer auch eine Autobahn hinbauen müssen. Gradaus bis- bis Stalingrad oder so!" "Meinste? Eine! Und was für eine! Nur für Motorräder!" Er vermied immer, Krad zu sagen, der olle Janno!

"Was? Noch keine Ruhe? - Ah, Jan, du, gut dass du dich meldest. - Ah, willst austreten. Weiss schon, deine Blase, deine lockere Blase."

Alles musste lachen. Undsoweiter. Wenn Jan sich draußen auspinkelte, oder auslachte, war neben mir Ruhe.

So hatten wir unsere Abwechslung vom öden Dienst als Luftwaffenhelfer. Dienst war Dienst. Und Schule - Schule war Privatidee des Herrn



*



"Als treuer Schwabe kenne ich meine Heimat, da bin ich viel unterwegs gewesen, in den allen deutschen Gauen. Von Konstanz zum Olympiastadion nach Garmisch!"

"Blödmann. Gab es gar nicht, die Winterspiele, damals da!"

"Von Neuschwannstein" (Er sagte immer: Schwann.)"Von Berg am See bis hoch hinaus. Zum Blauen Topf zum Beispiel. Oder bis tief unten nach Passau hinab, du Donau, unsere Lebensstraße. Und in die weite Ostmark hinein, wo sich die Donau verabschiedet an unseren Grenzen. Und auch der Ungar ist schon befreit. Und liefert das Gulasch fürs winterhiflswerk. So erzähle ich auch gern später noch mehr."

Aber jetzt, im Dreck und in der Kälte?



Da steht er morgens vor uns und reibt sich am Bullerofen die Hände. Nix mit DKW 25o ccm mit Spezialsitzen! Und zwei Motorradkappen, die später in Stalingrad fehlten. Nix Reparatur der Kupplung am Straßenrand! Nix vom Rennen auf dem Hockenheimring. Nix von der Rallye, äh, der Friedensfahrt durch Deutschland.

"Hat ja gut geklappt heute morgen, mit unserem Kanonenofen (Er kichert dabei). Ja, ich hab's gerne warm, für mich und für euch, Jungs. Und wenn's so dunkel und unfreundlich ist wie heute, da nehme ich gerne euch auf einer Gedankenreise mit in das schöne deutsche Sprachgut."

Und Dr. Schätzle war gut drauf. Er trug vor: Räuspert sich erst: Von Eduard Mörike: Das verlassene Fräulein oder so ähnlich.

"Nun, Jungs, was meinen Sie darüber?

Er wartet. Soller warten, bis es ihm ungemütlich wird. Hab nix verstanden!

Her Doktor, können Sie den Schma - äh, das Gedicht noch einmal vortragen?“

Ja, er kann es auswendig!

Zuhören! Jungs! Abschalten, Kameraden!

Trauen Sie sich ruhig! Immer frisch vom Fleck! Es ist mal etwas anderes als das Übliche im Deutschunterricht, mit Grammatik und Schönschreiben. Wie?“

Nein, noch keiner!

Ich trage es nochmals vor. Beachten Sie die sprachliche Schönheit! Versuchen Sie, sie nachzuempfinden! Haben Sie Mut, die Schönheit dieses Kunstwerks zu erkennen!

Und wieder achtzehn Strophen oder so!

Ja, Sie, Kurti!“

"Mägdlein? Ist das normal. Es soll doch eine junge Frau sein? Oder? Keine Magd!"

Sie müssen sich doch versetzen in die Lage eines Hausmädchens, das verführt wurde.

Kichern, irgendwo zwischen Hein und Wilhelm!

- Wer hat da? - Ich erwarte Konzentration und Fleiß für die Schweiß-, äh, die Perlen der deutschen Lyrik! -

Ja, Sie?

Und der "Flamme Schein"? Was meinen Sie denn? Hier stinkt es vom Bullerofen, und ich hab mir vorhin die Uniform versaut, als ich den mit dem nassen Zeugs anstecken mußte.

Wohin paßt das Gedicht denn wohl?

Ich hab aufpassen müssen, um Sie überhaupt zu verstehen, Herr Dr.!

Ja, Sie schwäbeln so fein, Herr Dr. Schätzle!

Und die Schönheit und die Klangfülle. Und der Reim? Was sagt euch das, ihr jungen Herrn! - Euch fehlt noch die Bildung, die ihr nicht hinter dem 22er Geschütz lernt. Das müsste einer mal unserm Führer sagen!



Gar nix?

Wie jung mochte er sein?

Wie alt mochte er noch werden?


Soll ich denen vorsprechen?"Seht ihr am Fensterlein dort die rote Müss- äh: Mütze -?


Ich wiederhole die letzte Strophe: 

"Träne auf Träne dann
Stürzet hernieder; 
So kommt der Tag heran -
O ging er wieder!"

Oh, wenn ihr wollt: entstanden 1829. Very alt! - 
Da hat sich jemand ausgeschleimt, kotzig: "Armes Weibchen!" -
Wollte er es besser als im Volkslied machen?



Ich glaub, der Ludwig, einer von den dreien, die beim Luftangriff im Hydrierwerk draufgegangen sind, der wär von der gedichtmäßigen Schönheit begeistert gewesen.

(An ihn denken. Lächeln, traurig, mit Nachzündung. Glimmend.)

Der hat mir mal ein Gedicht an seine Marie vorgelesen. Aber nix mit entzündeten Äugelein und so!

Das stand da ja auch nicht bei Mörike.

Aber die Sternlein verschwinden. Heute noch - morgens ... Versteh ich.



Aber, wir tun alles für Sie! Wir geben uns Mühe um Ihre Bildung! Auch unter schweren Umständen, die uns die Angloamerikaner -

Und die leichte Flak, 22, Da stehen Sie ungeschützt gegen gegnerische Bomben, im Höllenfeuer. - Aufgepasst!

Eduard Mörike - das - das ist mein Herzblut! Jungs! Vergeßt mich nimmer!

Haben Sie da schon mal gestanden? Und über die leichte Flak lachen Tommys!“ „Die können uns auch nicht schützen!“ „Die Ballerei ist nur, damit wir was zu tun haben!“ „Das hast du aber mal gut gesagt, Sebastianchen!“

Die holen unsere Mühlen doch runter wie nix! Spitfire und Mustangs gegen die lahme, alte Ju 87! Die Me 109. Weg war sie, weggeputzt vom Himmel über der Ruhr. Und die Moskitos erst! Das ist wenigstens ein Flugzeug, die macht 650 Sachen!

"Und unsere 2 cm Flak, das ist doch was fürn Arsch! Da gehen wir doch baden!"

"Undankbar und- und - ehrlos, jawoll! Ehrlos und undankbar seid Ihr alle! Ich müßte euch melden!"


Geht vor dem Pult. Hin und her! Ach - im wehrmachtssmantel. Der Klassenraum war nicht geheizt.


Ich breche den Unterricht ab. Alle mitschrieben! Jawoll! - Ihnen fehlt ein Bleistift? - Schluß mit Lyrik! Ich diktiere drei Sätze! Die sind zu bestimmen nach Wortarten und Satzgliedern. Lassen Sie unter jeder Zeile zwei Reihen frei. Ich beginne. Wer raschelt da so lange?

Also, Obacht:

Aus dem Wehrmachtsbericht vom 5.1.45: In schweren Luftabwehrkämpfen bemühen sich unsere Flaksoldaten, um die Heimat vor den anglo-amerikanischen Terrorbombern zu schützen....



*



Handelnde: Dr. Eduard Schätzle, Deutschlehrer, und zwölf Luftwaffenhelfer (Benannte Figuren in Kurt Abels Erinnerungsbuch „Ein Held war ich nicht“.)




Ort: Schulbaracke der Luftwaffenhelfer am Flugplatz in der Kirchhellener Heide bei Gladbeck 
 

Zeit: 8. Januar 1945



(Als Vorlage meines Textes diente der Bericht von Kurt Abels über eine Unterrichtsstunde eines Deutschlehrers vor Flakhelfern im Januar 1945. Vgl. Kurt Abels: Ein Held war ich nicht. Köln u.a. 1998: Böhlau Verlag. S. 95; hier die Originalpassage:
 
Eines Morgens eröffnete er [Dr.Schätzle, ein Mittelstufenlehrer] (...) den Unterricht [für die Flakhelfer], indem er das Gedicht „Das verlassene Mägdlein" von Eduard Mörike vorlas; vielleicht bewog ihn der dunkle, unfreundliche Morgen dazu. Dann forderte er uns au£ die Qualitäten des Gedichtes nachzuempfinden oder zu erkennen. Dazu war anscheinend kaum einer, ich jedenfalls nicht, in der Lage. Vielmehr bemüh­ten wir uns mit unseren schülerhaften, unbeholfenen Worten auszudrücken, daß uns ein Mädchen, das Feuer anmacht und dabei darüber klagt, daß es von seinem Freund verlassen wor­den sei, völlig egal sei, es gehe uns nichts an. Der Lehrer hatte wohl geglaubt, daß der trübe, nebligkalte Morgen, der triste Schulweg, der Aufenthalt in der von einem Ofen geheizten, aber sonst wenig anheimelnden Schulbaracke mit ihren häßlichen Holztischen und den Standard-Flakschemeln einen günstigen Einstieg in die .Behandlung' oder .Durchnahme' des Gedichtes bieten würden. Die Auseinandersetzung wurde heftiger. „Mägdlein" und „Knabe" erschienen uns als abwegige Wörter; in der rein männlichen Umgebung war ein ganz anderes Voka­bular geläufig. „Der Flamme Schein" und „das Verschwinden der Sternlein" ließen das Gedicht als anachronistisch und des­halb unpassend erscheinen. Schließlich brach Dr. Schätzle die Stunde ab. Aus der Rückschau betrachtet haben wir, wenn nicht dem Lehrer, so doch Eduard Mörike und seinem Gedicht un­recht getan. Das Gedicht wirkt trotz oder vielleicht wegen der Schulstunde an diesem Morgen im Januar 1945 nach. Ich lernte seine literarische Qualität erkennen und habe es nie mehr aus dem Gedächtnis verloren. 
Wie im Gedicht das Feueranzünden die traurigen Assozia­tionen des verlassenen Mädchens hervorruft, so verursachte die Notwendigkeit, in der Schulbaracke den Ofen zu heizen, einen zweiten Zusammenstoß zwischen Dr. Schätzle und Schülern, diesmal unmittelbar zwischen ihm und mir. Jeden Morgen wa­ren im Wechsel zwei der Schüler verpflichtet, eine Viertelstunde vor Beginn des Unterrichts den Ofen in der Baracke anzuheizen (...)



Nachruf für Professor Dr. Kurt Abels der Pädagogischen Hochschule Freiburg:

Ad gloriam Eduard M ö r i k e:

Eduard Mörike - 1823,  19jährig - 






Sonntag, 13. November 2011

M ö r i k e s ´"E r i s t 's"








Anton Stephan Reyntjes
Du bist ins Leere entschwunden, aber im Blau des Him­mels hast du eine unfaßbare Spur zurückgelassen, im Wehen des Windes unter Schatten ein unsichtbares Bild.  
Rabindranath Tagore
9. März 1829 - ein Frühlingstag der deutschen Lyrik


Eduard Mörike schreibt sein Frühlingsgedicht "Er ist's!"


... und andere Poeten schreiben ihm nach.



"Frühling läßt sein blaues Band
wieder flattern durch die Lüfte ...“

- Mörikes so suggestiv-einfaches, schon vom Text her stimmig-liedhaftes Bekenntnis zum blauatmosphärischen Lenz ist sicherlich eines der bekanntesten deutschen Frühlingsgedichte, wenn nicht gar das bekannteste überhaupt, ebenso ein lyrisch elementarer wie poetisch komplexer Fall naturnaher Dichtung, genauer gesagt: ein sowohl ökologisch als auch denkbiologisch oder wahrnehmungspsychologisch interessantes Exemplum für Kunst wie Leben, für Ästhetik wie Gefühlsökonomie, beides darf nicht als pathetisch-empfindelnd oder naiv-unreflektoert und einfältig gleichgestellt werden.
Als Vikar in Pflummern, nahe Riedlingen an der Donau, im Dekanat Münsingen, schrieb Mörike das Gedicht am Vormittag des 9. März 1829. Dort saß er, fühlte sich unglücklich, obwohl oder gerade weil er in der zweiten Hälfte des Jahres 28 den Ausbruch aus der von ihm so benannten "Vikariatsknechtsschaft" geprobt hatte. Aber seine Versuche, außerhalb der Kirchenverwaltung eine Hofmeister- oder eine Bibliothekarsstelle zu finden, scheiterten. Auch die einschneidendste Veränderung, zu der er sich beruflich entschied, nämlich als Redakteur für eine projektierte Damenzeitung in Stuttgart beim angesehenen Verlag Franckh zu arbeiten, war kläglich gescheitert - auf Kommando oder nach Druckterminen Aufsätze oder Erzählungen zu schreiben - nein, da befielen ihn Bauchschmerzen, ihn, der ohnehin psychosomatisch so anfällig war seit seinen Kindertagen und von Mutter und Schwester häufig unter medizinische und psychologische Kuratel gestellt wurde. "Ärger als je vom Predigtmachen", so klagt er selber, wurde ihm von dieser anfangs so hoffnungsvoll angestrebten Redakteurstätigkeit. Sein Abgang aus München war eine Flucht gewesen; er verließ den Verlag, ohne die Vorauszahlungen des Verlegers abgeleistet zu haben.
Sein Wiedereintritt in den Kirchendienst - was bleibt ihm anders übrig nach seiner theologischen Ausbildung und dem drittklassigen Abschluß des priesterlichen Kandidatenexamen? - erfolgt als Pfarrverweser in Pflummern, wo die Mutter ihm den Haushalt führt. Am 9. März schreibt er dort das Gedicht, das später am häufigsten in der deutschen Literatur kritisch parodiert oder einfühlsam, liebevoll umgestaltet wird in Kontrafakturen, Nachempfindungen oder Variationen.
Als Prozeß der Wahrnehmung, die alle Sinnesorgane und Mörikes so eigentümlich differenzierendes ästhetisches Fühlen und poetisches Reflektieren betrifft, ist es ein lyrisches Kunstwerk, ein unvergleichliches Kleinod und Empfindungsmodell aus der Zeit des deutschen Biedermeier geworden; der Epoche, die zwischen Restauration und Revolution sich so typisch schlafmützig und deutschtümelnd verstand, wie später nur noch die Adenauerzeit der 50er und 60er Jahre. Die Genauigkeit der beschriebenen Empfindung vermittelt jedem, der den Text liest, aufsagt oder mithört, vom Deutschlehrer erzwungen oder ihn freiwillig nachsummend, ein unmittelbar suggestives Verständnis, eine psychisch eindrucksvolle Abfolge der Wahrnehmungen und Sinne, eine erlebnismäßige Umittelbarkeit ohne Interpretationszwang. Wer den Text näherhin befragt ob dieser direkten Wirkung, ihn untersucht wegen seiner scheinbaren Einfachheit, kann eine merkwürdige Abfolge der Wahrnehmungen nachvollziehen; ein Denkbiologe aus der ökologischen Schule Eric Vesters etwa würde heute sagen, Der Text leistet eine optimal vielfältige Aufnahme mit allen menschlich verfügbaren, leider heute häufig degenerierten oder allergisch überreaktiven Sinneskanälen und Apperzeptionsleistungen.
Der Vikar Mörike, nein, der Naturfreund Mörike, erst 24 Jahre alt, geht aus von einem optisch-sinnlichen Allgemeineindruck, vielleicht morgens auf den Himmel gerichtet: Im vorherrschenden Grau der Atmosphäre beobachtet er Streifen, Bänder neuen verheißungsvollen Blaus, atmosphärisch auffällige Streifen der neuen, der kalendarisch zu erwartenden Jahreszeit, wie sie im Schmuddel-Winter nicht festzustellen sind; sie sind vermittelt durch den wieder beobachtbar hohen Himmel, durch bessere Fernsicht. Diese Frische, dieses Neue im Gesichtskreis wird unterstützt durch das Geruchsmäßige, ein intensives olfaktorisches Moment; süße "wohlbekannte Düfte". Hier erinnert sich ein sensibler Erwachsener der Gerüche des letzten Jahres, des letzten Frühling, er saugt sie interessiert ein, es wird ein landerfüllender Eindruck, er dokumentiert eine Spezialität des teilnehmenden Beobachters, der seine Nase noch zu gebrauchen, seine Erinnerung zu aktivieren weiß. Es ist Zeit für seine staunenden, begehrenden Gedanken, sich in der Nähe umzusehen, die Veilchen wahrzunehmen, sie "träumen schon"; sie sind noch nicht erwacht zum Leben; der Traum, weiß dieser Sinnenmensch, geht dem Aufwachen unmittelbar voraus; auch wenn dem Dichter damals, am Anfang des 19. Jahrhundert noch keine Traum-Analysen aus Schlaflabors vorlagen, war die Genauigkeit solcher Beobachtungen und Lebensregeln von Menschen, die ganzjährig den natürlichen Lichtbedingungen des Tages und der Nacht unterworfen waren, elementar einsichtig; die Veilchen werden aufwachen und jeden, der hingucken kann, mit ihrem traurig-wehmütigen Gesicht anschauen; denn die Horn-Veilchen gemeint sind, die hier zu Mörikes Lebenszeit noch in der freien Natur wachsen, sich aber auch schon in Menschennähe, von Gartenfreunden kultiviert, finden: die Viola vulgaris, ein kleingesichtiges, blaues bis blaugelbes Blütenbild, ein verkleinertes Stiefmütterchen. Immer stärker vermenschlicht der Dichter seine bisherigen Eindrücke - seine Gefühle, seine eigenen Wünsche sind es, die sich artikulieren im Wechselspiel mit dem Draußen: als "ahnungsvoll" anthropomorphisierte Mörike schon die Streifen des Blaus; den Veilchen unterstellt er, daß sie "balde" kommen "wollen". Dieses Zusammenspiel von akustischen und ahnungsvollen-traumhaften Eindrücke und eigenen, psychischen Antworten und Sehnsüchten zieht jetzt ein reflektierendes Fazit der psychischen Reaktion: "Ich hab dich vernommen", den Frühling nämlich. Und daß man zu Anfang des vorigen Jahrhunderts diesen so natürlichen wie mythologischen Lenz mit seinen Bändern noch spontan herzlich als Freund begrüßen, als Naturkonstante begehen konnte, kann jeder Leser, jeder Leser oder Hörer einer Liedfassung nachvollziehen, wenn er überlegt, was alles für die Menschen nicht vorhanden war, um lebend oder wenigstens gesund durch die Wintermonate zu kommen: kaum eine ausreichend gesicherte Existenz durch Nahrungsmittelvorsorge, keine bequeme, speicherbare Energie, keine im modernen Sinne wirksame Medizin, nachzuweisen an dem Lebensdurchschnittsalter des damaligen Menschen von knapp vierzig.
Die nachvollziehbare Wirksamkeit und bis heute populäre Bekanntheit dieses Kunstdiamants Naturlyrik (nicht nur erzwungen durch Deutschlehrer-Lieblings-Hausaufgaben) läßt sich auch nachweisen an den Parodien oder Kontrafakturen - es lassen sich mehr als zehn zusammenstellen; selbst Goethes "Erlkönig" oder Schillers "Lob der Frauen" sind nicht so häufig verfolgt oder verhohnepipelt worden. Und das Gedichtchen reizt immer noch zum neuen Variieren, egal in welcher Jahreszeit, da es in der Kürze und Klarheit erinnerungsmäßig und ästhetisch immer verfügbar ist. Die besten und schönsten, weil sie sich unterschiedlicher Stilmittel, differenzierter Bezüge zum Mörike-Original und eigenständig-individueller Intentionen bedienen, werden hier mit der obligaten jahreszeitlichen Frage verbunden: Was bleibt von Mörike, was ist originär Neues in den Parodien, oder besser ausgedrückt, in den Kontrafakturen, da sie das Original nicht vernichten oder lächerlich und natürlich auch nicht können, auch wenn sie es wollen.
Über Jahrzehnte galt es, immer diesen scheinbar leichten Text, sozusagen empfindungsreich und mit der entsprechenden sentimentalen Verzückung nachzuvollziehen und stimmungsvoll vorzutragen. Jedoch haben sich auch Gegentendenzen entwickelt bei lediglich affirmativem Klassikverständnis.

Immerhin ist der zweite Text auch schon älter als dreißig Jahre:

Karl Krolow: Neues Wesen
Blau kommt auf
wie Mörikes leiser Harfenton.
Immer wieder
wird das so sein.
Die Leute streichen
ihre Häuser an.
Auf die verschiedenen Wände
scheint die Sonne.
Jeder erwartet das.
Frühling, ja, du bist's!
Man kann das nachlesen.
Die grüne Hecke ist ein Zitat
aus einem unbekannten Dichter.
Die Leute streichen auch
ihre Familien an, die Autos,
die Boote.
Ihr neues Wesen
gefällt allgemein.

Geschrieben ist das nur vom Hören her kaum vollständig verstehbare Gedicht 1967. Der stark reflektierende, schon philosophisch-hermeneutische Text stellt eine attraktive Mischung dar aus Begriffsprosa und lyrischen Zeichen. Krolow, einem der wichtigsten Gegenwartslyriker deutscher Sprache, zeichnet die Verunsicherung der vorgeblich reinen Naturerfahrung nach. Pure Natur gab es im strengen Sinne auch schon bei Mörike kaum noch, außer im Kitsch, also zum Beispiel im deutschen Schlager; die Natur ist längst ein kulturell-technisch vermitteltes Konstrukt, nicht nur in unserer Zeit; es kann kein Naivitätskult sein, der mit dem Frühling aufgezogen wird; es ist menschlich-poetischer Standard, die vermittelte Position des Autors in seiner Zeit, in seiner Umwelt aufzuzeigen. Natur ist immer Spiegel humaner Bedürfnisse, Abbild menschlicher Möglichkeiten, Perspektive ästhetischer Utopien.

Hätten Sie Lust ...
... zu schätzen, aus welchem Jahr die nächste Variation stammt?

Manfred Hausin:
Lied vom Gifttod
Gifttod läßt sein Würgeband
einfach flattern durch die Lüfte;
schwere, unbekannte Düfte
streifen unheilvoll das Land.
Gifttod freut sich schon,
will gar balde kommen.
- Horch, von nah ein leiser Sensenton!
Gifttod, ja du bist's!
Dich hab ich vernommen!
Dieses Sprachspiel mit dem ursprünglichen Gedicht und wichtigen Faktoren unserer modernen Lebens- und Industriewelt ist schon 1971 veröffentlicht worden. Es ist also bereits dreiundzwanzig Jahre alt und stellt ein frühes, sympathisches Beispiel naturnah und ökologisch orientierter, lyrischer Wahrnehmung der klassischen Literatur und der ihrer Entsprechungen in der Gegenwärtigkeit unserer Umwelt dar.
Was ist nun aber überliefert vom jungen Mörike, aus seiner Existenz als Vikar in Pflummern, einem Örtchen auf der schwäbischen Alp, wohin es ihn nicht freiwillig, etwa um einer pastoralen Begeisterung der Katechese und der Predigt willen, gezogen hat.
Wie sah nun Mörikes Lebenszusammenhang, sein lyrischer Soziotop aus? Was nun steht für Mörike im März des Jahre 1829 dem kristallin-sensiblen Diamant der lyrischen Kunst in seiner privaten und beruflichen Existenz gegenüber? Nehmen wir den 26. März heraus! In seinem Brief an den Freund Johannes Mährlen formuliert er folgende, private und geistliche Kernaussage zu seiner Situation: Er übertreibt nicht, sondern sucht Verständnis beim Freund, der schon seit der gemeinsamen Uracher Seminarzeit sein Vertrauter ist, dem er nichts vormachen kann, wenn er schreibt: "Du hast keinen Begriff von meinem Zustand. Mit Knirschen und Weinen kau ich an der alten Speise, die mich aufreiben muß."
Für beide klingt mit diesem Begriff der Speise sowohl der faustische Lebenszweifel, aber auch der spezielle Lebenszwang der geistlichen Profession an. Mephisto ist hier verpackt:
"O glaube mir, der manche tausend Jahre
An diese harten Speise kaut,
Daß von der Wiege bis zur Bahre
Kein Mensch den alten Sauerteig verdaut."
(Faust V.: 1776-79)
Aber Mörikes Lebensklage geht noch weiter: "Ich sage Dir", und er meint den Freund, "der allein begeht die Sünde wider den heiligen Geist, der mit einem Herzen wie ich der Kirche dient". Er zitiert und vergegenwärtigt hier dem Freund und Theologen seine berufliche crux, seine Lebenslüge: Priester sein zu müssen, obwohl er sich der geforderten Normierung nicht sicher ist, ja sich nicht berufen fühlt. Die angespielte Matthäus-Stelle ist brutal eeinach und fordert Ehrlichkeit: "Wer aber wider den Heiligen Geist redet, dem wird weder in dieser noch in der kommenden Weltzeit verziehen".
Kein Wunder, wenn Mörikes Körper ob solcher gegen seine Überzeugung geleistete Amtstätigkeit permanent psychosomatisch und geistig rebelliert. Seine Psyche aber kann in ihrer poetischen Verdichtung eine Wahrnehmungsfreude, eine Hoffnung assoziiren, die Jahrhunderte überleben wird.
Ein Mörike-Forscher formuliert es vornehm-neutral: "Er, Mörike, zweifelt erneut und existenziell an seiner Tauglichkeit für den kirchlichen Dienst und sieht sich nach Möglichkeiten um, dem schwäbischen Landpfarrherrendienst zu entkommen. Er mag alle seine kognitiven und emotionalen Sinne und Beziehungen angestrengt haben!
Und was schrieb er, am Knüppeltisch seiner Vikariats-Existenz in einem hochgnädig verfaßten Brief an das Landeskonsistorialamt in Stuttgart?
Ein Bittgesuch um Anstellung als Pfarrer in Pflummern.
Sein Leben im Kirchendienst, mit seinen so stark reduzierten sinnlichen Eindrücken (nur feucht blühender Kalk an den Wänden, ein bißchen Weihrauch, ein Stückchen Moder-Gewänder aus ungeheizten Sakristeien, ein trostlos muffiger Geruch aus den Predigt- und Liedbüchern, aus trostlosen Verpflichtungen, Überprüfungen auf religiöse-moralisch-politische Rechtschaffenheit an Spinn- und Singabenden in den Stuben seiner Gemeinde durchführen zu müssen, ihren erzwungenen Einschränkungen auf nur noch äußerlich funktionierende Liturgie und ein behindertes Wort an unleidliche, nicht fesselbare Zuhörer, anstelle des großen, freien, ästhetischen Hauchs der Poesie, der Möglichkeiten, sich und anderen in der Literatur zu dienen:
Eine private und poetisch-professionelle Tragödie - der er auch durch eine Pensionierung mit 38 Jahren in Armseligkeit und permanenter Not nicht entkam.“ (Peter Härtling, Zitat fehlt hier.)
(Vertonung: "Frühling, ja du bist's!")
Sein eigener Lebensfrühling war es nicht; schon in ersten Briefzeugnissen fällt neben der sprachlichen Virtuosität das dauernde Aufzeigen von romantisch hoher Gestimmtheit, von lustvoller Erinnerung, der beständigen, schon früh und häufig verzweifelten Suche nach Übereinstimmung von Denken und Fühlen, der Abwehr von Mißstimmungen durch das Herausfühlen von schönen und anregend glücklichen Momenten, seiner Sehnsucht nach Harmonie, die er in der Natur erlebte - besser gesagt erahnte: denn auch hier, im Kunstwerk des Gedichts, ist sein eigener psychicher Anteil mindestens so groß wie der objektiv-äußere der Natur.

Im Frühlingslied, seinem biedermeierlichen poetischen lyrischen Diamant menschlicher Stimmung und Sehnsucht nach Vollkommenheit, besang Mörike diese Utopie des Natürlichen, des Sozialen und des Psychischen, auch in anderen klangreichen, liedhaften und leidnahen Gedichten.
In seinem Leben zog dieses Allzu-Nahe, Allzu-Intensive, so stark Emphatische des Lebendig-Natürlichen, des Freiwillig und Freigiebigen an ihm vorbei als einem extrem mitleidenden Empfangsorgan. Trotz bester, ja extremer Aufnahmemöglichkeiten lyrischen und mitmenschlichen, ja elementaren körperlichen Empfindens. Oder gerade wegen dieser Begabung?
"Er ist’s!" Diesen Jubelruf - wie oft mag Mörike ihn verwendet haben, wenn er einen geliebten Menschen, der sein Ankommen angekündigt hatte, herankommen sah? So wurden die Freunde erwartet, egal ob in Pflummern, später in Ochensenwang und dann in seiner selbständigen Pfarre Cleversulzbach: Freunde in großer Zahl, in intensivstem Kontakt, so bezog er von seinem Lebensfreund Wilhelm Hartlaub ganze Pakete mit Predigttexten zum Beispiel. Diese lyrisch-gestische Übertragung von einer sozial und psychischen Kontaktaufnahme auf die Natur aber
funktioniert nur ästhetisch, nur im Kunstwerk, ob Gedicht, ob Lied; sie kann nicht sozial, nicht beruflich-pragmatisch, nicht im Lebensentwurf funktionieren. Pech für den Menschen guten Willens, für Mörike! Doch seine Gedichte, seine Lieder sind häufig exerziertes Paradebeispiele für die Rezeption von Gefühligkeit, von dussligem Sentiment. Hätte Mörike auch diesen Standard einer oberflächlichen, trivialen Gefühlskultur psychisch repräsentiert - er hätte seine Lyrik anstandslos und leichthin verfaßt, er hätte auch beruflich das Durchschnittsmaß eines württembergischen Landpfarrers für Taufe, Abendmahl und Predigt verkörpern können. Er hätte weniger wahrnehmen, weniger erfassen können müssen; er hätte kaum, vielleicht gar nicht gelitten an den Gesichtern der Veilchen, der Starrheit der Predigtstühle, der Amtspflichten, der Versteinerungen aller Art in seiner Umgebung, der Illusion seines Lebensentwurfs. Er wäre nicht tradiert worden für den Literaturunterricht, für die sanfte, deutsche, gewohnheitsmäßige Liedkultur.
Das blaue Band des Mörikeschen Frühling hat viele Bereiche erreicht, so daß er ein beliebiges, in seinem Kern der Naturbotschaft stets stimmiges Kulturzitat wurde. Ich fand es als Fangzeile in der Heiratsanzeige eines Mannes (53/1,85/76kg), veröffentlicht in der ZEIT vom 19.3.93.
Doch hinter das Kunstwerk, gerade in den Vertonungen von Hugo Wolf und Hugo Distler, tritt das Leben Mörikes zurück ins vergeßbar Individuelle. Es überlebte und wird weiterhin tradiert werden ein Text, der in seiner Schlichtheit ein künstlerisch einmaliges Moment hat. Über hundertmal, weiß die Fachliteratur, wurden "Gebet", "Ein Stündlein wohl vor Tag", "Das verlassene Mägdlein" und "Er ist's" vertont, die berühmtesten, wenn auch nicht die besten Gedichte Mörikes; es sind die Texte, die seit der Jahrhundertwende zu einem festen Kanon der volksliedhaften Gedichte Mörikes gehören; die, scheint's, so eng mit dem Namen Mörike konnotiert werden, daß auch literarische Anthologien und das Angebot in Schullesebüchern in unseren Tagen kaum andere Text aufnehmen, obwohl es viele andere, psychologisch interessantere und künstlerisch bedeutsamere, auch viele satirisch-komische gibt, die man dem verzweifelten oder pensionierten Dorfpfarrer kaum zugetraut hätte.
Erhalten geblieben ist uns ein Gedicht und eine Liedvorlage, die so differenziert realistisch wie intuitiv-sensibel ein Lebensgefühl vermitteln, das für jeden Menschen nachvollziehbar ist: die Freude am neuen Hoffen in jedem Frühjahr - ob auch in Mörikes Leben, muß verneint werden, ob am eigenen, jährlich wieder erwachenden psychischen Leben dessen, der an den Text "glaubt", darf nicht einfach gefolgert werden.
Texte:
1. Eduard Mörike (1804 - 1875):
Er ist’s

Frühling läßt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
- Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist's!
Dich habe ich vernommen.
[e: 9.3.1829]

2. Karl Krolow (1915 - 1999)
Neues Wesen

Blau kommt auf
wie Mörikes leiser Harfenton.
Immer wieder
wird das so sein.
Die Leute streichen
ihre Häuser an.
Auf die verschiedenen Wände
scheint die Sonne.
Jeder erwartet das.
Frühling, ja, du bist's!
Man kann das nachlesen.
Die grüne Hecke ist ein Zitat
aus einem unbekannten Dichter.
Die Leute streichen auch
ihre Familien an, die Autos,
die Boote.
Ihr neues Wesen
gefällt allgemein.
[e.: 1967]

3. Rainer Brambach (1917 - 1983):
Das blaue Band

Das blaue Band, wie Mörike es sah,
flatternd in den Lüften, wo?
Ich sehe einen Kondensstreifen
quer über den Himmel gezogen -
aber die Amsel ist abends immer da
auf dem First gegenüber singt sie ihr Lied
unsäglich -
(D.: 1983)

4. Harald K. Hülsmann (?)
Frühling - objektiv

Frühling läßt sein blaues Band ...
Hier irrte Mörike
Ein Schnelligkeitswettbewerb
für Wolken
findet nicht statt
Fest steht nur
daß sich alljährlich
eine gewisse Unruhe
nicht vermeiden läßt
Professor Barnard
könnte das sicher erklären
[D.: 1969]

5. Manfred Hausin ( * 1951):
Lied vom Gifttod

Gifttod läßt sein Würgeband
einfach flattern durch die Lüfte;
schwere, unbekannte Düfte
streifen unheilvoll das Land.
Gifttod freut sich schon,
will gar balde kommen.
- Horch, von nah ein leiser Sensenton!
Gifttod, ja du bist's!
Dich hab ich vernommen!
[e.: 1971]

6. Dietrich Fischer-Dieskau: "Der Nacht ins Ohr":

» ... der lieblichste Gesang tönte soeben aus dem Zwinger herauf, wo die Tochter des Wärters mit den ersten Gar­tenarbeiten beschäftigt war. Sie selbst konnte wegen eines Vorsprungs am Gebäude nicht gesehen werden, desto vernehmlicher war ihr Liedchen, wovon wir we­nigstens einen Vers anführen wollen. ( ... ) Die Strophen bezeichneten ganz jene zärtlich aufgeregte Stimmung, womit die neue Jahreszeit den Menschen, und den Ge­nesenden weit inniger als den Gesunden, heimzusuchen pflegt.« So führt Mörike in seinem Roman "Maler Nol­ten" (1832) das Gedicht "Er ist's" vor. Er hatte es 1829 in seinen Vikarjahren niedergeschrieben, und das von vornherein in der Gestalt, in der wir es heute kennen; an eine strophische Weiterführung, wie aus seiner Ein­führung eigentlich zu entnehmen wäre, hat der Dichter wohl nie gedacht.
Weil die Verse unbefangen aufgenommen werden sollen, läßt Mörike es ein einfaches Mädchen zur Arbeit singen. So kommt es Nolten zu Ohren, der unter der Frühlingssonne nach einer fieberhaften Erkrankung kör­perlich und seelisch allmählich gesundet. Auch die An­deutung einer Mehrstrophigkeit soll wahrscheinlich ei­nen fiktiven Volksliedcharakter unterstreichen. Gleich zu Beginn das magische, alles Reale ins Überwirkliche stei­gernde Bild vom »blauen Band«, das der Frühling als han­delndes Wesen »flattern läßt« ‑ Bild und Bedeutung flie­ßen in eins. Beseelte Natur läßt jede sinnliche Aussage zugleich eine seelische sein, und damit ist die Entstehung des Schwerelosen in Mörikes Lyrik bezeichnet.
Frühling läßt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte,
Süße wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land;
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen;
Horch, von fern ein leiser Harfenton! ‑ ‑
Frühling, ja du bists!
Frühling, ja du bists!
Dich hab ich vernommen!

Muß hier nicht jede Vertonung auch Verflachung be­deuten? Ganz abgesehen von den mannigfaltigen Rhyth­men und den schmiegsamen Metren, »die in keiner me­trischen Rechnung aufgehen« (Staiger). Gerade wegen der dem Gedicht bereits innewohnenden Musik gehört »Er ist's« zu den meistvertonten Gedichten Mörikes. Die Worte erwachsen aus einer Stimmung, die zu einem seli­gen Jauchzer wird, ein Frühlingsahnen, das begeisterten Menschen immer wieder Töne entlockte.
Wolfs feurige, unbändige Natur verströmt sich, ohne doch schrankenlos zu verfahren; dafür steht schon die aba‑Liedform und das aus Teil a entwickelte Vor‑ und Nachspiel, das Ganze umrahmend. Ein in formaler Strenge gezähmter Ausbruch, vom ersten bis zum letzten Takt ein jubelnder Hymnus auf den Frühling, im Ge­gensatz zu Robert Schumanns zurückgenommener Ver­innerlichung beim gleichen Text.
In: Eduard Mörike: Der Nacht ins Ohr. Gedichte von Eduard Mörike. Vertonungen von Hugo Wolf. Ein Lesebuch von D.F.D. München 1998. Carl Hanser Verlag. S. 33f.)

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7. TOM: eine Variation auf
Mörikes "Er ist's":

Seht: Geschmolzen Schnee und Eis!
Violett, orange und weiss
Kroken aus der Erde kommen!
Frühling, bist's!
Hab dich vernommen.
Seh' dein flatternd blaues Band!
Süsse Ahnung streift das Land!
Und auch Düfte - Ach, oh, Lenz!
Riechst nach Klo und Pestilenz!
Eben noch von Freud' erfüllt -
schon perdu!
Der Bauer güllt!
(Vom taz-Zeichner und Dichter: TOM (Touché) - (Aus: WAZ v. 23.03.02)

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Vgl. eine andere Zusammenstellung:

http://www.biblioforum.de/forum/read.php?35,10231,10235